Der Sohn des Odysseus
Habt ihr schon einmal von Telemachos gehört? Das war der Sohn des bekannten griechischen Helden Odysseus. Der Odysseus, der unter anderem auf die Idee mit dem Trojanischen Holzpferd kam. Eingebettet in die griechische Mythologie erzählt Annika Thor in "Der Sohn des Odysseus" die Geschichte aus Sicht des elfjährigen Jungen, der seit er denken kann auf die Rückkehr seines Vaters aus dem Trojanischen Krieg wartet. Wir begleiten Telemachos etwa 10 Jahre lang auf seinem Weg zum Erwachsenwerden, lernen ganz spielerisch etwas über die Protagonisten der griechischen Legenden und erfahren zudem viel über die Rolle der Frauen in dieser Zeit. Die Geschichte wird für Kinder ab 10 Jahren empfohlen.
Telemachos ist ein äußerst zurückhaltender, schüchterner Junge, den sein geringes Selbstbewusstsein und sein wenig heldenhaftes Aussehen plagen. Von Gleichaltrigen wird er oft gefoppt und verspottet. Er wächst umringt von Frauen wie seiner Mutter Königin Penelope und seiner Kinderfrau Eurykleia auf. Die Autorin konzentriert sich in ihrem Entwicklungsroman einerseits auf seine Selbstzweifel, ob er den Erwartungen als Sohn seines Vaters gerecht werden kann und andererseits auf seine Sehnsucht nach Odysseus, nach einer Vaterfigur. Gerne hätte ich noch mehr über Telemachos außerhalb der Fixierung auf die Abwesenheit seines Vaters erfahren – wie vertrieb er sich die Zeit, was mochte er, worin war er gut? Jedoch wurde die psychologische Darstellung Telemachos' Gedanken und Gefühle, seiner Gewissensbisse, seines Haderns und seiner schlussendlichen Befreiung aus jeglichen Zwängen äußerst glaubwürdig herausgearbeitet. Als Leser wünscht man sich, Telemachos möge doch ein wenig mehr das Leben genießen und aus sich heraus kommen, sich von dem ewigen Schatten des unerreichbaren Vaters befreien. Eumaios, Sklave und Aufseher der königlichen Schweinehirten, fasst es gut zusammen:
"Du bist sein Sohn, aber wenn alles, was du tust und denkst, nur um ihn kreist, wirst du nie du selbst werden." (S. 75)
Ein Glanzstück des Buches sind die wundervollen Illustrationen von Ishtar Bäcklund Dakhil. Bereits das Titelbild verzaubert mit seiner silberglänzenden Darstellung zweier Schiffe auf wilder See. Das kleinere könnte symbolisch für Telemachos stehen, der droht, von dem größeren Schiff – seinem Vater – überrollt zu werden. Auch die beiden Landkarten auf den Buchinnenseiten (Irrfahrten des Odysseus und Ithaka und das griechische Festland) wurden sorgfältig und liebevoll gestaltet.
Mir hat die Geschichte sehr gefallen, vor allem der Perspektivenwechsel aus Sicht der Zuhausegebliebenen, die auf die Rückkehr ihres Vaters, Ehemanns und Königs warten. Bisweilen wirkte die Erzählweise, meiner Meinung nach, nicht kindgerecht für Kinder ab 10. So ist zum Beispiel oft die Rede von Beischlaf und Schwängern der weiblichen Sklaven und von blutigen Kämpfen. Ich würde das Buch daher eher für Leser ab 12 empfehlen, doch sicher kommt es immer auf die Reife des Kindes an.
Der Schreibstil der Autorin (und die herausragende Übersetzung aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer) lesen sich flüssig und teilweise sehr poetisch. Einfach ein Genuss für Liebhaber schöner Sprache! Hier ist ein Beispielsatz, der mein Spachherz zum Leuchten bringt:
"Penelopes Augen füllten sich mit Licht und gleichzeitig mit Tränen wie ein sonniger Frühlingsregen, und das ließ ihr Gesicht wieder jung aussehen." (S. 282)
Auch habe ich, die sich vorher nie wirklich eingehend mit der Odyssee oder griechischer Mythologie befasst hatte, überaus viel darüber gelernt. Dabei gelingt es der Autorin, die vielen Figuren locker und spielerisch in die Geschichte einzuflechten, ohne dass es verwirrend für den Leser wird. Falls doch benötigt, gibt es eine Übersicht aller Charaktere am Ende des Buches.
Wie ich nach Lektüre der Geschichte herausfand, gab es wohl schon etliche literarische, musikalische und darstellende Kunstwerke über Telemachos und seinen Übergang vom Jungen zum Mann, doch war mir Telemachos vorher nie ein Begriff.
Ich empfehle "Der Sohn des Odysseus" (Anzeige)* allen Menschen, die etwas in die griechische Mythologie eintauchen und einen Jungen dabei begleiten wollen, wie er sich vom Vater und auch der Gesellschaft emanzipiert und schließlich seinen ganz eigenen Weg findet und auch geht.
Dem Verlag Urachhaus danke ich recht herzlich für das Rezensionsexemplar!
Alles Liebe,
Angaben zum Buch:
Autorin: Annika Thor
Illustratorin: Ishtar Bäcklund Dakhil
Originaltitel (schwedisch): Odysseus pojke
Übersetzerin: Birgitta Kicherer
Verlag: Verlag Urachhaus
Seitenzahl: 352 Seiten
Erscheinungsdatum: 25. August 2021
Altersempfehlung: ab 10 Jahren
ISBN: 978-3825152864
Bildquelle: © Verlag Urachhaus